Der Grossvater war Trinker, und weil er nicht loskam vom Alkohol, erhängte er sich mit 31. Auch der Vater war Trinker, er starb mit 51 an Leberzirrhose. Und der Sohn? Der Kelch der Sucht ging weiter an Andreas
Am Ende waren es 14 Ein-Liter-Packungen Glühwein, die Andreas Weber hinter seiner blauen Couch im Wohnzimmer gehortet hatte. Alle aufgerissen, alle leer. In den Blumenkübeln steckten Zigarettenstummel, die Vorhänge der Einzimmerwohnung waren zugezogen. Hier, abgeschottet von der Außenwelt, verbrachte der 26-Jährige seine letzten Wochen.
Er guckte Action-Videos, spielte PlayStation – und hier soff er. Besuchen durfte ihn niemand, oder anders: So sehen durfte ihn niemand. Sehen, wie er sich den Billigwein schon morgens in den Mund kippte, wie er auf dem Sofa einnickte, ständig brechen musste – und wie er zum Schluss vor Schmerzen wimmerte, weil ihm sein Bauch wehtat. „Wir haben alle nicht gewusst, wie schlimm es wirklich um Andreas stand“, sagt seine Mutter Dagmar Weber (56). „Er hat zwar mit mir telefoniert und mich besucht, aber Andi hat immer versucht, seine Sucht herunterzuspielen. Er wollte nie enden wie sein Vater.“
Andreas Weber aus Chemnitz starb am 6. April 2008 mit 26 Jahren an den Folgen seiner Alkoholsucht. Fast die Hälfte seines Lebens hatte er getrunken, bis sein Körper nicht mehr konnte. Seine Bauchspeicheldrüse entzündete sich, löste sich schließlich selbst auf. Seine Nieren versagten, die Atmung setzte aus, die Därme waren von Bakterien verseucht. Drei Wochen kämpfte Andreas Weber im künstlichen Koma um sein Leben. Dann starb er im Bezirkskrankenhaus Chemnitz.
Es ist dieselbe Klinik, in der sechs Jahre zuvor sein Vater Steffen (51) durch eine Leberzirrhose umkam. Auch er war Trinker. Genauso wie sein Vater Heinz, der sich mit 31 Jahren erhängte.
Großvater, Vater, Sohn – drei Generationen, denen die Droge Alkohol ihr trauriges Erbe hinterlassen hat.
„Dieses Teufelszeug zieht sich wie ein Fluch durch unsere Familie“, sagt Conny Weber, „es hat mir die Liebsten genommen und ich konnte nichts dagegen tun.“
Conny Weber ist 31 Jahre alt und die Schwester von Andreas. Eine fröhliche Frau vom Typ Inka Bause: hauptberuflich Kosmetik-Beraterin, privat Pilotin. Conny Weber hat die BILD-am-SONNTAG-Reporter zum Gespräch eingeladen. Sie will reden, gemeinsam mit ihrer Mutter, mit der sie auch im Internet über Andreas berichtet (
http://www.ASW81.de.vu). Sie wollen erzählen, wie zerstörerisch diese Sucht sein kann, wenn man nicht rechtzeitig die Notbremse zieht. Aufrütteln – damit der Tod von Opa, Vater und Bruder wenigstens nicht ganz umsonst war.
Wir sitzen am Wohnzimmertisch. Mutter und Tochter nippen am Cappuccino, sehen sich alte Fotos an: Andreas lächelnd am ersten Schultag. Andreas braun gebrannt im Urlaub in Kroatien. Andreas zieht Fratzen beim Partymachen. „Andi war eigentlich immer gut drauf“, sagt seine Mutter, „er konnte so charmant sein, toll reden und erzählen.“
Dann stockt sie: „Aber leider war er auch antriebslos. Er hat nie etwas zu Ende gebracht.“ Schon als Schüler habe er regelmäßig das Fußballtraining geschwänzt, obwohl er ein guter Spieler war. Und zur Realschule sei er in der 8. Klasse einfach nicht mehr hingegangen. Stattdessen kam er abends ab und zu mit einer Bierfahne nach Hause. Da war Andreas gerade 16 Jahre alt. Zu viele falsche Freunde, zu viele Partys, vermutet seine Mutter heute.
Immer zu viel, von allem. Aber immer auch zu wenig. Zu wenig Vorbild. Zu wenig Vater. Einer, der am Spielfeldrand seinen Sohn anfeuert. Mit ihm die Matheaufgaben übt. Und erklärt, was wirklich wichtig ist.
Andreas war 8 Jahre alt, als sein Vater Steffen sein Leben als Trinker begann. Er hatte gerade seinen Job als Lokführer verloren. „Erst waren es nur ein, zwei Bierchen am Abend“, erinnert sich Conny Weber, damals 13 Jahre alt, „später kam Schnaps dazu. Wenn Andi und ich mittags von der Schule kamen, lag Vati betrunken auf dem Teppich und jammerte. Es war furchtbar.“ Sieben Jahre hielt die Familie das aus. Dann verließ Dagmar Weber, von Beruf Redaktionsassistentin, ihren Mann. „Ich dachte, alles würde wieder gut werden, wenn wir raus aus diesem Elend sind.“
Eine trügerische Hoffnung. Niemand ahnte, dass der Alkohol bereits das Leben ihres Sohnes übernommen hatte.
Zunächst jobbte Andreas als Promoter in der Firma seiner Schwester, hatte die ein oder andere Freundin. Einer wie er konnte die Frauen zum Lachen bringen. Dass sie bei ihm blieben, schaffte er nicht. Zu dritt teilten sie sich eine Wohnung: Conny, Andreas – und seine Sucht. „Es ging nicht lange gut mit uns“, sagt seine Schwester, „Andi räumte nicht auf, ließ unentschuldigt Aufträge platzen, und abends ging er ständig feiern.“ Wenn Conny ihn wegen des Trinkens ansprach, kam nur: „Keine Angst, ich will doch nicht enden wie Vati.“
Gerade 21 Jahre alt war Andreas, als sein Vater im Vollrausch starb. „Mein Mann wuchs auch ohne Vater auf. Als er knapp ein Jahr alt war, brachte sein Vater sich um. Aber das Trinken hat er von ihm übernommen.“ Dagmar Weber rührt gedankenverloren in ihrem Cappuccino. Eine freundliche Frau, mit traurigen braunen Augen. Macht sie sich Vorwürfe? „Ja schon“, sagt sie, „vielleicht hätte ich Andreas mehr Liebe schenken sollen. Oder ihn mehr in die Schranken weisen. Ich weiß es nicht. Ich hatte immer Angst, ihn zu verlieren.“ Ihn, den „Kleinen“, der mit sechs Jahren beim Baden in der Ostsee fast ertrunken wäre. Oder der beim Pilzesuchen im Wald stolperte und sich das Küchenmesser in die Schläfe rammte. „;Mutti, Mutti‘, hat er geschrien. Das werde ich nie vergessen.“
Auch die Schwester fühlte sich für den „kleinen Bruder“ verantwortlich. Bis zum Schluss. „Als das mit seinen Jobs nicht mehr lief, haben wir ihn überredet, sich beim Bund zu melden. Wir hofften, dass er dort Verantwortung lernen würde.“ Andreas verpflichtete sich für acht Jahre. Doch er hielt nicht lange durch. Immer wieder standen Feldjäger vor seiner Tür, weil er unentschuldigt gefehlt hatte. Am Ende 39 Tage. „Andi lag in seiner kleinen Wohnung, spielte PlayStation. Er wollte nicht.“ Und er konnte nicht – weil er trinken musste. „Alkoholismus und eine narzisstische Persönlichkeitsstörung“ bescheinigte ihm der Bundeswehr-Psychiater, als Andreas die Armee vorzeitig verlassen musste. „Von da an ging es nur noch abwärts“, sagt Conny. Wieder versuchte sie, ihrem Bruder ein paar Jobs zu verschaffen, aber er sagte die Termine ab.
Wenn Freunde ihn besuchen wollten, ließ er sie nicht in die Wohnung, setzte sich vorm Haus zu ihnen ins Auto. Seine Miete zahlte er nicht, seine Mutter löste ihn mit 1500 Euro aus, konnte so eine Zwangsräumung verhindern. Andreas trank weiter, rauchte Kette. Für alles andere reichte seine Energie nicht mehr. Seine Post öffnete er nicht. Dass er seit Monaten ohne Krankenversicherung war, hat er nicht mehr mitbekommen.
„Ich lebe wie in einem Nebel, nur manchmal sehe ich die Realität – und dann möchte ich schnell wieder im Nebel versinken“, hat Andreas einmal zu seiner Mutter gesagt. „Was meinst du?“, hat sie ihn gefragt. „Ach nichts, Mutti“, hat er geantwortet, „nichts.“
Quelle: Bild.de